Aktuell *Ost Über Uns Archiv Impressum English




Mit der Kamera gen Osten: Spurensuche nach einem impulsgebenden Kino

Alexander Horwath über Osthype und Seriosität

redaktionsbüro: Heinrich Deisl
Alexander Horwath:
- Zwei Ereignisse, die zusammenfallen: 40 Jahre Filmmuseum und die EU-Osterweiterung am ersten Mai: Wären das nicht zwei ideale Gründe, anlässlich derer man eine Filmserie mit Schwerpunkt „Osteuropa“ veranstalten könnte?
- Nein, gerade weil Serien solcher Art derzeit so sehr in sind, machen wir sie nicht“, meint Alexander Horwath. Das Filmmuseum sei eben, wie sein Mitbegründer Peter Kubelka es einmal formuliert hatte, eine „poetische und polemische“ Institution, die unabhängig von Modeströmungen agieren könne.
Und das Museum war das erste deutschsprachige Pendant zur renommierten Pariser Cinémathèque Française. Nicht-geschmäcklerisches Kino zeichnet sich aber selten durch volle Geldkassen aus. Das Filmmuseum stellt da keine Ausnahme dar. Horwath: „Für ein großes Fest zum 40-Jahr-Jubiläum fehlt uns das Geld. Außerdem soll bei uns ja nicht der bereits abgesegnete Kanon der ‚100 besten Filme’ abgespielt werden, sondern jeder ist gefordert, aktiv bei der Kanonisierung des Filmdenkens und Filmgedächtnisses mitzuwirken. Wir programmieren eine Mischung zwischen thematischen Herangehensweisen und Monografien.“ Daher waren Werkpräsentationen wie die des Polen Andrzej Munk (1922–1961) im April 2003 nicht effekthascherischer Osthype, sondern der Versuch, Sehgewohnheiten zu erweitern.
- Wie schätzen Sie die postkommunistische Phase in den osteuropäischen Ländern hinsichtlich Filmkultur ein?
- Das Kino des europäischen Ostens war bereits wesentlich weiter entwickelt und hat seit dem Fall des Kommunismus einiges an künstlerischem und infrastrukturellem Defizit hinnehmen müssen. Man muss akzeptieren, dass in der kommunistischen Ära in diesen Ländern die Filmkultur viel ernster genommen und seriöser betrachtet wurde – aus welchen Gründen auch immer. Die Arbeitsbedingungen und die Qualitäten sind dort nach 1989 rapide gefallen. Ab dieser Zeit waren die Filmarchive lange punziert, weil in ihnen die Apparatschiks Dienst getan hatten und dem allgemeinen Verdacht der staatsnahen Propaganda ausgesetzt waren. Unter diesen Leuten gab es hochausgebildete Filmarchivare, Restauratoren, Programmierer. Wenn ich die osteuropäische Filmszene historisch betrachte, entdecke ich so prägende Strömungen wie das sowjetische Revolutionskino der zwanziger Jahre, den polnischen Film der fünfziger Jahre oder die Erneuerungsbewegungen der sechziger Jahre in Ländern wie Jugoslawien, Ungarn oder der Tschechoslowakei.
- Das tschechische Kino hatte seine ganz großen Sternstunden. Gibt es die heute noch?
- Mir scheint, in Tschechien arbeitet eine spannende jüngere Generation von Filmemachern, etwa Kolja Raschke. In den Sechzigern war dieses Kino wirklich außergewöhnlich und in der Lage, Hollywood Impulse zu geben. Heutzutage erweist es sich als eine ziemlich heruntergekochte Angelegenheit. Petr Zelenka ist ebenfalls ein sehr interessanter Filmemacher. Das Prager Národni Filmový Archiv etwa produziert auch weiterhin fantastische Stummfilm-Restaurierungen, verfügt jedoch für Retrospektiven über nicht genügend Geld.
Man sollte nicht vergessen, dass es sich beim jungen tschechischen Film oft um ein Kino handelt, das zum Teil bewusst mit dem Export liebäugelt. Ein humanistisches, mit tendenziell touristischem Lokalkolorit versehenes Kino. Jedoch nicht so lokal, dass man es im Ausland nicht mehr verstehen würde. Aber derartige Arbeiten findet man in fast jedem Land: ein gutbürgerliches, kultiviertes Kino, das ich persönlich ganz in Ordnung finde, das aber aus der Perspektive eines Filmmuseums nicht relevant erscheint.
Demgegenüber entstanden etwa in Argentinien, wo die Filmschaffenden finanziell ähnlich mager ausgestattet sind wie in Osteuropa, in den vergangenen Jahren einige herausragende Werke, die historische Bedeutung für sich beanspruchen können.
Polen muss sich bezüglich seiner filmhistorischen Aufarbeitung mit seinen eigenen Fragen auseinander setzen: Holocaust, Religion, Identitätssuche …Es gibt bleibend wichtige Mikrotraditionen, die nahezu subkutan verlaufen. Bezüglich des polnischen Kinos erscheint mir Andrzej Munk der Wichtigste. Munk, der früh gestorben ist und nur vier oder fünf Langfilme gemacht hat, war ein Regisseur, der für das moderne europäische Nachkriegskino viel interessanter ist als alle seine polnischen Zeitgenossen, inklusive Andrzej Waida. Munks zentraler Film „Pasazerka“ (1961) gilt für mich als der vielleicht stärkste Spielfilm zum Holocaust. In Polen konfrontiert man das Publikum heute oft mit groß angelegten Historiendramen. Das dient auch gewissen nationalistischen Avancen und hat viel mit der lokalen Förderpolitik zu tun. Ich entdecke dort eine gewisse Grobheit im ästhetischen Ausdruck und, gemessen an der großen Geschichte dieses Landes, enttäuscht mich das natürlich ein wenig. Andererseits agieren in Polen seit kurzem wieder junge Leute, die sehr spannende Arbeiten zu Wege bringen, Malgorzata Szumowska etwa, Robert Glinski mit „Hi, Tereska“ oder der Film „Edi“.
- Wie steht es um den österreichischen Film?
- Der wesentliche Beitrag Österreichs zum Weltkino fand während des Aktionismus mit Filmen von Peter Kubelka, Valie Export, Kurt Krenn und anderen statt. Diese Avantgarde-Tradition seit den Fünfzigern wird genauso respektiert wie der Dokumentar- oder der Spielfilm. Diese Stilvielfalt finde ich einzigartig für das hiesige Filmschaffen. Der Avantgardefilm und der Unabhängige Film haben hier immer schon mehr Platz gehabt als anderswo, siehe Filmmuseumsgründer Kubelka. Zurzeit übt interessanterweise das realistische und auch düstere Autorenkino viel Einfluss aus, bei dem man seine eigene Vision verwirklicht, selbst das Drehbuch schreibt, filmt und schneidet – wie es etwa Barbara Albert, Jessica Hauser oder Peter Svoboda tut.
- Und wo bleibt das künstlerische Potenzial in Osteuropa?
- Man müsste untersuchen, was auf den örtlichen Spielplänen steht, was in Prag, Budapest, Temešvar und so weiter läuft, ohne je in Westeuropa zu landen. Dann könnte man möglicherweise sehen, was in den jeweiligen Ländern als vorbildhaft gilt, für die Künstler wie für das Publikum. Ich fürchte, dass man dort eher mit Quentin-Tarantino-Filmen, dem Modell nach dem Film „Memento“ (Christopher Nolan, 2000) oder dem Modell David Fincher („Fight Club“, 1999) konfrontiert sein wird und vieles andere dort dafür nicht so stark beachtet wird.
- Man hat somit das große Erbe kaputtgespart und ist trotzdem guter Hoffnung. Inwiefern können die Cinematheken nun neue Impulse setzen?
- Was Slowenien und Kroatien betrifft, konnte man auf eine reichhaltige Tradition von experimentellen Film- und Videomachern verweisen, die von der bildenden Kunst beeinflusst waren. Wesentlich hierfür war etwa die Stadt Zagreb. Hier wäre eine große historische Aufarbeitung des gänzlich außerhalb der Industrie stehenden Film- und Videoschaffens dringend nötig.
Die Kinoteka in Ljubljana leistet dabei wichtige Arbeit. So wie alle anderen verfügt auch sie über ein geringes Budget. In Polen gibt es ein klassisch operierendes Filmarchiv, dessen Programme fast zur Gänze aus eigenen Beständen und eher aus dem Mainstream-Sektor stammen. Auch das Staatliche Filmarchiv Gosfilmfond in Russland leidet massiv unter Finanzentzug.
- Wie reagieren die jungen Filmkünstler und Programmierer auf die aktuelle Situation?
- Ich glaube, dass die jetzt kommende Generation in mehreren dieser Länder im Stande ist, eine neue filmkulturelle Breite und Intensität zu schaffen. Die Jungen versuchen die marginalen, aber bedeutenden Traditionen ihrer Länder zu reaktivieren. Ich habe zwei Bekannte, Programmgestalter in der Cinemathek in Ljubljana, die fahren in der Früh mit dem Auto von dort weg, schauen sich im Filmmuseum in Wien Filme an und fahren dann in der Nacht wieder zurück. Und das bis zu zweimal im Monat. Dieser fast schon selbstausbeuterische Enthusiasmus lässt auf eine spannende Zukunft schließen.
Vom 27. Mai bis 20. Juni 2004 findet im Filmmuseum im Rahmen der Serie „Arts: Film: A: Exil“ eine umfassende Retrospektive zu Leben und Werk von Peter Lorre statt. Mit mehr als 80 Rollen gehört Lorre zu den wichtigsten Schauspielern und Regisseuren des frühen Films. Unvergessen durch seine Leistungen in „Casablanca“ (1942), „The Maltese Falcon“ (1941) und als abgefeimter Mr. Moto, erlangte der 1904 im ungarischen Roszahegy geborene und 1964 in Los Angeles gestorbene Lorre mit „M – Eine Stadt sucht ihren Möder“ 1931 Weltruhm. Das Filmmuseum zeigt 35 der wichtigsten Arbeiten mit Lorre. Parallel dazu wird im Zsolnay-Verlag zusammen mit der Filmtheorie-Plattform SYNEMA die Publikation „Peter Lorre: Ein Fremder im Paradies“ erscheinen.

Alexander Horwath, geboren 1964 in Wien, ist seit Jänner 2002 Direktor des Wiener Filmmuseums. Seit 1985 Filmkritiker (Falter, Der Standard, Wespennest, Meteor u. a.). Langjähriger Leiter des österreichischen Filmfestivals Viennale. Publikationen über Michael Haneke und Peter Tscherkassky, über „New Hollywood“ und umfangreiche Studien zum österreichischen Avantgardefilm. Seine Vorgabe an sich selbst: „Mindestens ein Film pro Tag.“



Artikel erschienen in: REPORT. Magazin für Kunst und Zivilgesellschaft in
Zentral- und Osteuropa,April 2004
Link: REPORT online - Link: Filmmuseum - Link: Cinematique francaise - Link: Národní filmový archiv - Link: Gosfilmfond - Link: Andrzej Munk - Link: Kolja Raschke -